23. Januar 2014

eine kühle Nacht voll Wärme


Der Mond leuchtete hell durch die Glasfront. Der ganze Raum wurde in sein silbriges Licht getaucht. Keine einzige Wolke. Das Licht erschuf eine düstere Atmosphäre hier drin. Die weißen Wände erschienen kalt und alles wirkte gefühllos. Als blickte man in einen tiefen Abgrund. 
Ich sah hinaus in den Garten. Sah die schwarzen, unheimlichen Schatten der hohen Bäume. Wie sie sich in der leichten Brise bewegten. Langsam und träge. Ohne es zu spüren, wusste ich, dass es kühl draußen war. Ich erschauderte. Ich war alleine in dem großen Haus. Niemand war hier. Und doch war da etwas. Oder jemand. 
Ich stand auf, ließ meinen Chai auf dem Couchtisch stehen und ging zu der Fensterwand. Vor der Glastür blieb ich stehen und legte meine Hände auf die kühle Oberfläche. Ich spürte, dass da draußen etwas war. Etwas oder jemand.
Ich schreckte zurück. Zog meine Finger ruckartig vom Glas. Etwas Eisiges und Unheimliches war dort. Ich wusste es genau. 
Neugierde flammte in mir auf. 
Ich legte meine Hände wieder auf das Glas und drückte die Handflächen dagegen. Mein Atem beschlug die Scheibe. Aufmerksam richtete ich meinen Blick auf die Wiese und die Bäume. Etwas veränderte sich. Eine sonderbare Wärme breitete sich um meine Hände aus. Eine angenehme Wärme. Ich schloss die Augen und lehnte meinen ganzen Körper gegen die Glaswand. 
Ein leises Geräusch drang an meine Ohren. Ich öffnete zwinkernd meine Augen und sah wieder hinaus. Ich blickte direkt in diese Augen. Irgendwie blau, aber irgendwie auch nicht. Der Blick ging tief, tief in mich hinein. Er lächelte kurz und beim nächsten Zwinkern war er verschwunden. Und mit ihm die Wärme. 
Ich machte die Tür auf, in der Hoffnung, dass er und das warme Gefühl wiederkämen. Zu mir hereinkämen. Aber draußen war nichts außer dieselbe unheimliche Kälte von vorhin. Der Wind fuhr durch meine Haare. Ich konnte nicht weg, ich stand einfach da. In der Tür. Hinter mir ein leeres, einsames, kaltes Haus. Vor mir ein dunkler, silbergrauer Garten voller Schatten. 
Ich stand einfach nur da und ließ meinen Blick wandern. Die Zeit verstrich. Ich sah hinauf in den Himmel. Sah den Mond leuchten und fragte mich, ob er zurückschaute. 
Es wurde dunkler. Das silberne Licht des Mondes verschwand immer mehr. Düsterkeit legte sich immer mehr über die Welt. 
Als der Mond die Wipfel der alten Bäume berührte, regte sich etwas zwischen ihren Schatten. Ein lautes Rascheln. Stampfen. Vibrationen, die den Boden erbeben ließen. 
Ein Elefant kam zwischen den Bäumen hervor. Seine Schönheit war unübertroffen. Dunkelgraue Haut, dunkle große Augen. Eine so gütige Ausstrahlung. Und Trauer bemerkte ich. Er sah mich an. Und ich sah ihn an. Von seinem Blick angezogen, ging ich langsam auf ihn zu. Schritt für Schritt. Und wie ich näher kam, bemerkte ich die schwere Kette, die an seinem hinteren linken Bein hing. Er schleifte sie nach und mit jedem Schritt erklang ein Klirren. Ein disharmonisches Geräusch. Ein Ausdruck von Schmerz. Ich hielt die Luft an und blieb mitten auf der dunklen Wiese stehen. Das kühle, feuchte Gras schmiegte sich an meine nackten Füße. 
Der Elefant kam auf mich zu. Langsam, wie in Zeitlupe. Eine Armlänge vor mir blieb er stehen und blickte mir tief in die Seele. Ich verstand nicht, wie jemand so ein besonderes Tier anketten konnte. Wozu? fragte ich mich. 
Ich rang mir ein Lächeln ab, gut gemeint, aber seine Trauer ging auf mich über. Mein Lächeln scheiterte schon bei dem Versuch und ging unter. Ich hob einen Arm und berührte ihn. Ich sah hinauf in seine schönen dunklen Augen. Ich spürte seinen Schmerz. Seine Traurigkeit. Tief in sich drin war er verletzt. Und diese Wunde konnte keiner so schnell heilen. 
Ich ging langsam um ihn herum, zu der Kette. Bloß ein paar Glieder waren von ihr übrig. Als ein Überbleibsel von schlechten Erfahrungen und Erinnerungen hing sie da, lag viel zu fest um sein Bein und verletzte ihn. Eine einzelne Träne rann über meine Wange. Wer tat so etwas? Ich fuhr leicht mit meinen Fingern über die Verletzung. Der Elefant bewegte sich nicht von der Stelle. Als meine Hände die Kette berührten, kalt und hart, eine Fessel, spürte ich eine leichte Vibration. Der Mondlicht wurde reflektiert und auf einmal war es ganz hell. Ich musste die Augen schließen. Und als ich sie wieder öffnete war die Kette verschwunden. 
Wunder. 
Der Elefant drehte sich zu mir herum und sah mich an. Er strahlte Dankbarkeit und Wärme aus. Seine innere Ruhe ließ mich erzittern. Ich legte beide Hände auf seine dunkle graue Haut und atmete die kühle Nachtluft ein. Wärme erfüllte mich. Dieselbe Wärme von vorhin. Diese Augen blitzten in meinen Gedanken auf. Sein Lächeln. 

Der Elefant begann zu verschwimmen. Ich musste ein paar mal zwinkern, aber es war keine Einbildung. Er verschwamm. Seine Umrisse wurden unklar. Unscharf. 
Der Elefant verwandelte sich. 
Verwandelte sich in einen Tiger. Einen weißen Tiger. Wildheit lag in seinem Blick. Macht. Energie. 
Etwas Bedrohliches ging von ihm aus. Ich wich ein paar Schritte zurück. Sein Blick verfolgte mich. Sein Körper starr vor Anspannung. Jeden Moment begann sein Angriff. Unberechenbar. 
Ohne jegliches Nachdenken drehte ich mich um und rannte davon. Zum Haus, die drei Stufen hinauf, durch die Tür. Mit einem hellen Knall warf ich sie hinter mir zu.
Langsam drahte ich mich um. Angst durchzuckte mich. Der Tiger stand noch genau da, wo er aufgetaucht war. Keinen Grashalm hatte er umgeknickt. Er starrte zu mir. Und ich starrte zu ihm. Nichts rührte sich. Keiner von uns beiden wagte, sich zu bewegen. 
Sekunden des Schweigens. Ein innerer Kampf. Wer war stärker? Willensstärke. Kraft. Eigenschaften, die ich nicht besitze. Ich konnte dieses Anstarren nicht für mich entscheiden. 
Der Tiger triumphierte. Er stolzierte in der Wiese herum. Sein helles Fell leuchtete in der Dunkelheit. Gefahr ging von ihm aus. Aber eine schön anzusehende Gefahr. 
Ein Rascheln erklang von den Bäumen. Blitzartig legte er sich auf die Lauer, den Körper nah an den Boden geschmiegt. Geschmeidig schlich er sich heran.
Ein Vogel flog heraus. Zwitschern. Er flog auf den Tiger zu, umkreiste ihn, spielerisch. Der Tiger sprang hoch, versuchte ihn zu fangen. Doch seine Pfoten konnten den flinken Vogel nicht erwischen. Noch einmal kreiste er über dem Jäger, bevor er im schwarzen Nachthimmel verschwand. 
Ich sah den beiden zu. Beobachtete durch die Glaswand, wie der Tiger dem Vogel nachsah, bis man ihn schon längst nicht mehr erkennen konnte. 
Meine Hände lagen auf dem angenehm kühlen Glas. 
Als hätte der Tiger sich wieder an mich erinnert, drehte er sich um und lief auf mich zu. Knapp vor mir blieb er stehen. Ich konnte mich nicht bewegen. Nur die dünne Glaswand trennte uns voneinander. 
Er hob eine Pfote und legte sie auf das Glas. In seinem Blick lag eine seltene Güte und Fürsorglichkeit. So etwas wie Liebe. 
Er war nicht nur gefährlich. Ich erkannte, dass er weit mehr war als das. Mehr als Kraft und Macht und Gefahr. 
Ich verspürte wieder diese Wärme. Wie vorhin. Ich dachte an diese Augen, an ihre Klarheit. Und an sein Lächeln. Und im nächsten Moment war es wieder weg. Der Tiger ließ seine Pfote wieder sinken und die Wärme verschwand.
Ich nahm meine Hände vom Glas.
Wir standen uns gegenüber und sahen uns an. Er warf mir einen Blick voller Zuneigung zu, machte kehrt und ging. Mitten auf der Wiese ließ er sich nieder. 
Ich folgte ihm, wie in Trance. Mein Kleid flatterte um meine Beine und mein Haar zerzauste vom Wind. 
Der Tiger begann zu verschwimmen und verschwand. Langsam, aber irgendwann war er nicht mehr da. Ich war allein. Niemand war mehr da. 
Ich spürte, dass gleich etwas geschehen würde. Ich begann zu zittern. Angst durchfuhr mich. Kälte kam auf. Es war wieder wie am Beginn dieser seltsamen Nacht. Unheimlich. Düster. 
Ich konnte mich nicht bewegen. Der Wind rauschte durch die Bäume und flüsterte mir Dinge zu. Meine Gedanken erschufen einen Abgrund in mir, der mich und meine ganze Welt, alles, in sich zog. Nichts konnte entkommen. 
Ich schloss meine Augen. Ganz fest. Vielleicht würde es ja so aufhören.

Mit einem Mal spürte ich starke Arme, die mich hielten. Eine Umarmung. Wärme ging von ihr aus. Sie vertrieb die Dunkelheit um mich herum und die Schatten in meinen Gedanken. Ich atmete einen neuen Duft ein. Kurz öffnete ich meine Augen und erblickte ihn. Diese Augen, die mir nicht aus den Gedanken wollten. Seine Augen. Sein Lächeln. Seine Wärme. 
Er ist alles, was ich jetzt brauche. 

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